Der vergessene Verstand

Wahrnehmen, erinnern und denken sind grundlegende Fähig­keiten des Menschen. Sie spielen sich ab auf dem Hintergrund seines Bewusstseins: seiner allerersten Fähigkeit.

Ein Mensch wird sich immer seiner Wahrnehmungen bewusst sein, solange er einiger­maßen wach ist. Er weiß gewöhnlich aber nicht, wie er zu seinen Wahrnehmungen kommt. Es ist ein Mechanismus, der ohne sein Zutun abläuft. Deshalb macht er sich gewöhnlich keine Gedanken darüber.

Der Mechanismus verwendet Wahrnehmungsbilder. Was immer ein Mensch sieht, hört, riecht, schmeckt, fühlt usw., nimmt er mittels Abbildungen der Eindrücke wahr, die er aus seiner Umwelt erhält. Es sieht, was er sieht, und er hört, was er hört, indem er die optischen und akustischen Anteile seiner Wahr­nehmungsbilder davon wahrnimmt. Seine Wahrnehmungsbilder folgen sehr schnell aufeinander, so dass er sie als fort­währenden „multimodalen“ (viele Wahr­nehmungsarten beinhaltenden) Film erlebt.

Die Wahrnehmungsbilder der Gegenwart verblassen sehr schnell und werden zu Erinne­rungsbildern der Vergangenheit. Sie sind aber immer noch da; und sie werden gebraucht, um zu erkennen, was man wahrnimmt. Inhalte von Wahrneh-mungsbildern werden auto­matisch mit ähnlichen Inhalten von Erinnerungsbildern verglichen. So erkennt man, dass man einen Baum, ein Haus oder was auch immer vor sich hat.

Erinnerungsbilder sind gewöhnlich recht unauffällig. Wahrnehmungsbilder sind un­gleich heller, lauter oder intensiver. Wenn wir die Sehwahrnehmung heraus-greifen, so sind sie bei Tageslicht hell genug, um sämtliche gerade aktivierten Erinnerungsbilder auszublenden. Erst bei völliger Dunkelheit werden sie annä-hernd in ihrer ursprüng­lichen Intensität wiedererlebbar. Siehe dazu die Träume der Nacht.

Es ist also der Mechanismus der Wahrnehmung selbst, der einen dazu verleitet, seine Erinnerungsbilder zu übersehen – selbst wenn sie die ganze Zeit aktiviert und deakti­viert werden, so dass man erkennt, was um einen herum vor sich geht.

In der Erinnerung werden Erinnerungsbilder zum Teil automatisch, zum Teil mehr oder weniger wissentlich und willentlich durchsucht, um an gespeicherte Information zu gelangen. Man versucht sich zu erinnern, wer bei einem Treffen am Vortag, letzte Woche oder vor zehn Jahren anwesend war, wer was sagte und wie man verblieb. Man ruft die Bilder dieser Zeit auf und versucht, sie wiederzuerleben; und je nachdem, wie gut es einem gelingt, erhält man Antworten auf seine Fragen.

Die wissentliche und willentliche Erinnerung ist also eine gute Gelegenheit, sich seiner Erinnerungsbilder bewusst werden. Doch das geschieht gewöhnlich nicht, weil man ja nur „mehr oder weniger“ in den Mechanismus eingreift.

Im Denken benützt man die Erinnerung. Oft hat man ein Problem, das man gelöst haben will. Man denkt darüber nach, wohin man mit seiner Frau zum Essen gehen könnte oder wie man in die Wohnung kommt, wenn man seinen Schlüssel gerade in derselben hat liegen lassen. Die bloße Erinnerung reicht nicht. Doch wenn man seine Erinnerungsbilder schon bei der Erinnerung nicht bemerkt, wird man sie wahrscheinlich auch denkenderweise übersehen.

Damit versinkt auch der Verstand selbst im Unter­bewussten: die Summe all seiner Erinnerungsbilder plus der damit verknüpften opti­schen und akustischen Symbole der Sprache und ihrer Regeln. Man hat seinen Verstand vergessen – und wahrscheinlich war man sich seiner nie wirklich bewusst.

So geht auch die Phantasie verloren. Denn die Phantasie beruht auf dem Umher­schweifen und Schwelgen in den Erinnerungen seines Verstands. Künstler und Wissen­schaftler nutzen sie, um Zusammenhänge darin zu erkennen und neue Verknüp­fungen zu finden. Der Romanleser verwendet sie, um das, was er liest, mit Leben zu erfül­len. Ohne Phantasie gibt es nur innere Leere. Den Leuten „fällt die Decke auf den Kopf“, wenn sie allein sind – und sie greifen zu Alkohol, Drogen und Psychopharmaka.

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Wenn Leute nicht wissen, dass sie einen Verstand haben, entwickeln sie ein gesteigertes Bedürfnis nach Wahrnehmungen: Filmen, Videos, Bildern aller Art, Musik, zumeist aus der Konserve, Informationen usw. So schauten die Deutschen 2018 durchschnittlich etwa vier Stunden pro Tag in den Fernseher. Etwa 57 Millionen Tonträger wurden verkauft. Die Zahl der Audio-Streams (quasi Hörfunk per Internet) erreichte knapp 80 Milliarden. Viele haben die ganze Zeit das Radio laufen. Viele schauen unablässig auf ihr Smartphone, in dem Versuch, ihren Hunger nach Bildern, Informationen und belanglosen Mit­teilungen zu sättigen.

Die Person bemerkt natürlich nicht, was geschieht. Sie erlebt nur, wie es sich auswirkt. Sie hat Ärger mit anderen – und gibt ihnen die Schuld daran. Was sie sieht, sind die anderen; also kann es nur an ihnen liegen. Wenn sie auch in ihren Verstand schauen würde, könnte sie vielleicht erkennen, dass sie selbst die Situation oder Person falsch eingeschätzt oder verwechselt hat. Vielleicht würde sie sogar erkennen, dass es eine ganze Reihe früherer ähnlicher Situationen gibt, in denen sie den gleichen Fehler gemacht hat. Sie könnte den Fehler korrigieren – und Ursache über die Situation werden, die ihr zuvor von anderen verursacht schien.

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Die Fixierung auf Wahrnehmungen und Vernachlässigung des Denkens wird gerade­zu beispielhaft in unseren modernen Wissenschaften praktiziert, wenn man Studien, Stu­dien und nochmals Studien fordert, um etwas zu „beweisen“ oder „widerlegen“, was offen­sichtlich ist, wenn man nur darüber nachdenkt – oder ehrlich mit den bisherigen Erkenntnissen umgeht.

Die Methodik hat sogar einen Namen: Empirismus (vom grch. „empeiria“, Erfahrung). Gemeint ist damit, dass die Erfahrung (Wahrnehmung) die einzige Quelle der Erkenntnis sein könne: eine Sichtweise, die auf englische Philosophen wie John Locke (1632-1704) und David Hume (1711-1776) zurückgeht. Im-manuel Kant (1724-1804) klärte den Sachverhalt und schlug vor, was wir heute eine „ganzheitliche Methodik“ nennen könnten. Ihr zufolge ist es natürlich wichtig, seine Annahmen zu prüfen, doch noch wichtiger ist es zu denken.

Der Empirismus hat sich dennoch durchgesetzt. - und das, obwohl zahllose Expe-rimente genialer Wissenschaftler, mit denen sie die Grundlagen der Physik, der Chemie und anderer Fächer geschaffen haben, einem zeigen, wie gründlich sie vorher darüber nach­gedacht hatten. Die Wissenschaftler sind eben der Masse gefolgt, die ihren Verstand ver­gessen hat.

Der Empirismus hat den Materialismus hervorgebracht: die Annahme, dass Materie das einzig wirklich Existierende sei – das, was man eben wahrnimmt. Es ist also das Gleiche, was sich beim Individuum beobachten lässt, nur dass es in den Wissenschaften einen Namen bekommen hat. Und so sind wir in einer seelenlosen, geistlosen Welt angekommen.

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Mit Verstand lebt sich's besser. Der Verstand ist darüber hinaus der einzig mögliche Ausgangspunkt für einen Weg der Selbsterkenntnis.

 

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